Kommentar zur Gemeindeversammlung vom 15. Juli 2022

Zuerst und ganz wichtig – die Statistik: Gegen 100 Stühle stehen vor der Bühne. 24 davon sind besetzt. Sechs Frauen, 18 Männer. Sechs Sitzende haben auf ihren Knien eine Unterlage aufgeschlagen und blättern darin, die anderen hören bewegungslos den Worten des Gemeindepräsidenten zu. Dieser, von hellem Licht angestrahlt, zelebriert den Anlass.

So wenig Anwesende. Also, offenbar nichts Wichtiges? Eine Angelegenheit, für die die Stimmberechtigten im Dorf sich den milden Sommerabend nicht vergällen lassen wollen? Ist das Grüppchen der Anwesenden etwa zur Sitzung verknurrt worden? Denn ohne Gemeinde-Abstimmung, ohne die Décharge, kann das Geschäft nicht abgeschlossen werden. – Nein, zweifellos sind die Teilnehmenden, sei es wie es wolle, einfach  pflichtbewusst, quasi einem höheren Zweck, dem Ritual der Gemeindedemokratie verbunden – wie Kirchgänger, die jeden Sonntag in die Kirche gehen, was auch immer der Pfarrer Langweiliges, Uninspiriertes, Vorgestriges, einem gegen den Strich Gehendes predige, denn die Messe ist das Höhere. Die treuen und sehr diskreten Leserinnen und Leser meiner Kommentare wissen, dass ich die Jahresrechnung als Kerngeschäfte einer Gemeinde ansehe und wenig Verständnis dafür habe, wenn sie wie eine Nebensache verwaltet wird. Im Dorf ist sie jedoch kein Renner. Im Mai 2014 nahmen 68 Stimmberechtigte an der Versammlung über die Jahresrechnung teil. Im Juni 2016 waren es nur 42 und im Juni 2017 immerhin 57[1]. Und jetzt eben 24. Noch ein interessanter Vergleich: 2014 hatte die Broschüre der Gemeinderechnung 21 Seiten, 2022 sind es deren 33, davon rund 10 Seiten Anhang.

Nicht verändert haben sich meine Beobachtungen zur Präsentation der Jahresrechnung. Es fehlt der inhaltliche Kurzbericht, der zusammenfassende Kommentar, der kondensierte Hinweis auf die sensiblen Rubriken. Dieses Versäumnis erschwert den Stimmberechtigten die mühelose Einordnung des umfangreichen Zahlenmaterials. Alles andere würde mich erstaunen. Denn die Erfolgsrechnung umfasst je rund 500 Einträge sowohl für die Rechnung 2021 als auch die für das Budget 2021 und die Rechnung 2020. Die Darstellung würde interessante Quervergleiche erlauben. Etwa, bei welchen Posten sich die grössten Veränderungen gegenüber den budgetierten Werten und der Rechnung 2020 ergeben haben? Und was die Ursachen dafür wären? Und wo man sich die grössten und wo die kleinsten Sorgen machen muss. Aber eben, vor lauter Bäumen sieht man den … Man verstehe mich richtig: Die Jahresrechnung ist vollständig und mit erläuternden Anhängen versehen, was sehr zu schätzen ist. Doch die Analyse der Daten ist für die Interessierten mit einem grossen Aufwand verbunden, den nur wenige zu leisten vermögen oder zu leisten gewillt sind.

Übrigens, der kleinste Betrag in der Jahresrechnung 2021 beträgt 6 Franken 80 für AG-Beiträge an Kranken- und Unfallversicherungen. Der grösste umfasst 900‘000 Franken als Betriebsbeitrag Bahn- und Skiliftbetrieb. Das sind rund 10% des Gesamtaufwands der Gemeinde. Die Visit Vals AG figuriert im Bericht mit insgesamt 1,4 Millionen Franken als grösste Beitragsempfängerin der Gemeinde. Stehen diesem Betrag auch entsprechende Einnahmen gegenüber? Die Jahresrechnung zeigt auf, dass auch im vergangenen Jahr der Selbstfinanzierungsgrad der Gemeinde ungenügend war und die Verschuldung sich im kritischen Bereich bewegte.

Die Geschäftsprüfungskommission GPK beschränkt sich auf das Formelle ihrer Tätigkeit und bringt ihrerseits kaum „Licht ins Dunkel der Gemeindeversammlung“. Das hatte vor einigen Jahren eine Lausanner Studie versucht und dabei heftig am stolzen Selbstverständnis gerüttelt, dass die Gemeindeversammlung quasi die leuchtende Urzelle unserer Demokratie darstelle. Die Forscher und Forscherinnen fanden heraus, dass die Beteiligung an den Gemeindeversammlungen in der Schweiz insgesamt rückläufig sei und dass jene, die daran noch teilnähmen, die Stimmberechtigten kaum repräsentierten.[2] Diese problematische Entwicklung scheint jetzt auch in Vals anzukommen.

Gibt’s dazu noch Fragen? fragt Stefan oGS[3]. – Nein, alles klar, die Protokolle der zwei letzten Versammlungen, die Jahresrechnung und die Sanierung der Bachverbauung in Lunschania werden von den Anwesenden gutgeheissen, ohne Gegenstimmen und Stimmenthaltungen. Eine kurze Diskussion gibt es zuletzt unter „Verschiedenes“, als eine Bürgerin sich darüber beklagt, dass am Sonntag, der den Valser Schutzherren Peter und Paul gewidmet ist, die Bauern mit lärmigen Landmaschinen und Heugebläsen die gebotene Feierlichkeit, auch die Darbietung der Dorfmusik, stören würden. Die summarische Antwort des Gemeindepräsidenten vermag die Fragestellerin nicht zu überzeugen.

Nach einer Stunde ist die Gemeindeversammlung abgeschlossen.

Jean-Pierre Wolf, Vals, 17.07.22


[1] Kommentare zu den Gemeindeversammlungen vom 30. Mai 2014, 17. Juni 2016 und 23. Juni 2017

[2] Dazu mein Kommentar vom 17. Juni 2016 Was sagt die Studie? Kurz zusammengefasst: Die Teilnahme an Gemeindeversammlungen nimmt im Durchschnitt stetig ab, in grösseren Gemeinden stärker als in den kleinen. Jene, die an Gemeindeversammlungen teilnehmen, repräsentieren das Gemeindevolk nicht – zu viele Alte, zu wenig Neuzugezogene. Mechanismen der sozialen Kontrolle und schwer zu entschlüsselnde Interessenbindungen beeinträchtigen die Unvoreingenommenheit bei der Stimmabgabe. Reformen könnten die Lage verbessern, etwa starke Aufsichtskommissionen, die den Gemeinderat und die Verwaltung überwachen.

[3] Gemeindepräsident Stefan `ohne Gegenstimmen‘