Brief eines Vaters an seinen Sohn (dt)

Vals, den 26. Januar 1951

Lieber Alfred!

Wie Du wohl schon am Radio und aus Zeitungen vernommen hast, ist unsere liebe Heimatgemeinde Vals von einem fürchterlichen Unglück heimgesucht worden. In schwerer und trauriger Stimmung will ich versuchen, Dir ein Bild der grausigen Verheerung zu entwerfen, die uns am St. Sebastiansstag widerfahren ist. In den höheren Lagen waren schon vorher gewaltige Schneemassen, und als am Freitag und Samstag ununterbrochen die weissen Flocken fielen, wurde die Bevölkerung von Angst und Bangen ergriffen. Als erste Hiobspost wurde am Samstag am Mittag gemeldet, die Lawine habe den oberen Stall «zur Gretza» weggeblasen und verschüttet. In diesem Stalle hatte Josef Castelberg seine Viehabe. Sofort gingen beherzte Männer hinauf, um zu retten, was noch zu retten war. Vier Ziegen konnten noch lebendig geborgen werden, die Kuh und eine Geiss waren hin. Man hatte grosses Bedauern mit dem armen Castelberg. Ebenfalls um die Mittagszeit rauschte durch das Molatobel herunter eine Lawine bis zur Brücke von Valle, die aber keinen sofort feststellbaren Schaden anrichtete. Nachmittags wurden mit grösster Lebensgefahr verschiedene gefährdete Ställe geräumt, so auf Madaniel, Soladüra, Zorz und Lussa. Unser Georg war auch dabei, und wir hatten berechtigte Angst, die Hilfsmannschaft könnte verschüttet werden, aber alle kamen am Abend wohlbehalten heim. Aber das Schrecklichste sollte noch kommen. Onkel Heinrich und die Familie Moor, sowie die Bewohner des Konsumhauses wurden aufgefordert, ihre Wohnstätten zu verlassen, aber leider, leider konnten sie sich nicht entschliessen, und das Verhängnis trat in fürchterlicher Weise ein. Abends um 10 Uhr, wir waren gerade ins Bett gegangen, klirrten unsere Fensterscheiben und die Mutter meinte es sei ein Föhnsturm. Mir war aber sofort klar, dass das der Winddruck einer Lawine war, sprang aus dem Bett, schaute zum Fenster hinaus, und sah, dass die Sonnenseite unseres Tales herabgewischt war. Das erste, was ich sah, gab mir sofort den Gedanken ein, das Haus von unserem Heinrich sei geliefert. In kurzer Zeit fanden sich viele Leute auf der Unglücksstelle ein, und was wir sahen, lässt sich gar nicht beschreiben. Alles war noch viel fürchterlicher als man ahnen konnte. Haus und Stall vom Onkel Heinrich, sowie der Hanstönistall und der Stall von Fritz Hubert waren spurlos verschwunden. Das Haus Furger (Konsum) war zu einem Trümmerhaufen zusammengeschachtelt. Kein Lebewesen war zu sehen. Sofort wurde mit der Rettungsaktion begonnen. Aber, o Schrecken, sofort wurde die Kunde verbreitet, die Adula und das Haus in Glüs seien auch zusammengestürzt. Stelle dir die traurige Situation vor. Von den vielen Ställen die verschwunden waren, teilweise mit Vieh, nahm man angesichts der zerstörten Wohnhäuser und der begrabenen Menschen, kaum Notiz.

Mit ganzer Hingabe wurde von der herbeigeeilten Mannschaft geschuftet. Als erste Person wurde Pia Tönz in unversehrtem Zustand fast am Rhein drunten gerettet. Die Mutter Paulina konnte sich in einem Holztrümmerhaufen unter dem Schnee bemerkbar machen und wurde verhältnismässig schnell gerettet, aber in verletztem Zustand. Im Hause Furger konnte Fridolin Furger mit Frau und ihren zwei Kindern und Herr und Frau Decasper in ziemlich gutem Zustand gerettet werden. Die Frau von Ludwig konnte erst nach 3 bis 4 stündiger Arbeit ziemlich wohlbehalten geborgen werden. In Glüs wurde Frau Mathilda mit ihrem Töchterlein nach längerer mühsamer Arbeit aus den Trümmern befreit. Wie durch ein Wunder kam das Söhnlein von Ant. Casanova mit dem Leben davon, und zwar ganz unversehrt. Bei der Adula wurde Lehrer Phil. Peng als erste Leiche herausgegraben. Im Laufe der Nacht wurden noch die Leichen von unserem Heinrich und Familie gefunden. Um ½ 12 Uhr machten sich 5 tapfere, beherzte Burschen mit Ski auf den Weg nach auswärts, denn das Telefon und das Licht funktionierte nicht mehr. Stelle dir vor, was das für eine gefährliche Sache war, denn man war keinen Augenblick sicher, ob sich nicht wieder neue Lawinen lösen könnten. Die Strasse nach Furth sei an verschiedenen Orten hoch verschüttet gewesen.
In Furth konnten die Boten nach Ilanz telefonieren und um Hilfe bitten.
Die ersehnte Hilfe traf im Laufe des Sonntags ein, Militär und Zivil. Eine besonders ergreifende Episode war die Rettung von Frau Lehrer Peng. Sie lag 16 Stunden lang im Schnee und Steinschutt begraben und konnte in verhältnismässig gutem Zustand geborgen werden. Es greift einem das Herz an, wenn man zurückdenkt, wie sich Männer und Jünglinge Tag und Nacht ununterbrochen in opferbereiter Weise am Rettungswerke beteiligten. Somit kannst du dir vorstellen, wie willkommen die auswärtige Hilfsmannschaft war und auch ein Arzt vom Spital Ilanz langte auf der Unglücksstelle ein und betreute mit grossem Pflichtgefühl die Geborgenen. Im Laufe des Montags und Dienstags konnten nach riesiger Arbeit die Leichen von Eugen, der ganzen Familie Moor, die Kinder vom Decasper und Lehrer Peng aufgefunden werden. Frau Ursula Casanova und ihre Kinder fand man schon am Sonntag als Tote. Eine schwere Aufgabe war die Einsargung und Aufbahrung der 19 Toten. Vom Dienstag auf Mittwoch wurden die Särge im Saal der Alpina aufgebahrt. Stelle Dir die grosse Trauer um die Verbliebenen vor Augen. Die ganze Nacht wurde Totenwache gehalten, und es wollte einem vor Wehmut an den vielen Särgen fast das Herz zerspringen. Am Mittwochvormittag wurden die Särge in die Muttergotteskapelle verbracht und dort reihenweise aufgestellt. Welch herzzerbrechender Anblick die vielen Särge; Vormittags um 9 Uhr wurde das Requiem gehalten und nachmittags 2 Uhr Abdankung und Beerdigung. Es war eine für Vals ungewohnte Volksmenge anwesend. Das weitere über die Beerdigung ist im Bündner Tagblatt vom Donnerstag ziemlich getreu geschildert. Mit herzergreifenden Liedern und Vorträgen nahmen die Jungfrauenkongregation, der gemischte Chor, der Männerchor und die Musikgesellschaft Abschied von den lieben Toten. Das grosse Massengrab mit den eng aneinandergereihten Särgen, bot einen schaurigen unvergesslichen Anblick. Mögen die lieben Toten in Frieden ruhen und der ewigen Glückseligkeit im Himmel teilhaftig sein. Bei einem solchen Anlass kann man sich am besten ein Bild der Vergänglichkeit alles Irdischen vor Augen stellen.

Im Weiteren kann ich dir noch mitteilen, dass unser Walistall stark demoliert wurde, denn man kann von Weitem konstatieren, dass das Dach verschwunden ist. Das Stubli soll noch stehen Was für Schaden im Wali noch entstanden ist, kann man erst feststellen, wenn ein Augenschein möglich ist. Auch im Moos droben hat eine Lawine gewüstet. Denn Guido hat es den grossen Stall zusammengebrochen und die ganze Viehhabe mit Ausnahme eines Kälbleins getötet. Das alte Geisställi sei total verschrunden. Unser Doppelstall sei auch grausig zugerichtet. Heute ist Hermann und Georg mit 5 anderen Heuziehern hinauf um das Heu zu fassen und herunterzutransportieren. Folglich ist es ausgeschlossen im nächsten Frühling im Moos zu «langsenen». Den unteren Morizeistall hat es auch auf einen Haufen geworfen und dem Heinrich Furger-Gartmann das Vieh verschüttet. Nur ein paar Stück Galtvieh konnten gerettet werden, die anderen liegen tot unter den Trümmern des Stalles. Unserem Morizeistall hat es kein Leid getan, obwohl wir Angst hatten für meinen Bruder und sein Vieh. Unter anderem hat es auch den Rotahärdstall total kaputt gemacht mit dem Vieh von Peng Andreas. Eine andere grosse Lawine sauste auch durch das Volchtannatobel herunter und hat den äusseren, alten Kartürastall gebrochen und die Sandställe beschädigt. Dem Jakob Joos hat es in der oberen Lussa auch alles Vieh zugedeckt und es konnte nur wenig gerettet werden. Der Mittlegada unterem Wali existiert auch nicht mehr. Ferner sind verschwunden: die Rischeiliställe nebst dem unsrigen, der obere Bühlstall, Schneggegädemli, Studagädemli, Schluascht, Bidasaschg. Zu letzterem hatte Seb. Furger zu füttern. Sein sämtliches Vieh ist in der Lawine begraben. Das sind nur so die Hauptschäden. Es ist anzunehmen, dass noch viele jetzt noch nicht kontrollierbare Schäden erst bei Schneeschmelze zum Vorschein kommen. Lange Zeit waren wir in banger Besorgnis, ob die Hornlawine auch noch zu Tal stürze. Die Zameiahäuser bis zur Alpina wurden für ein Paar Tage evakuiert. Wir wollen jetzt hoffen, die Hauptgefahr sei vorüber. Sollte noch einmal ein grösserer Schneefall eintreten, so würde die Gefahr wieder sehr gross.
Der Herrgott möge uns vor noch grösserem Unglück verschonen und behüten. Du siehst also, wie unser liebes, trautes Heimattal, unser Valsertal grässlich heimgesucht wurde. In der ganzen Schweiz wurde keine Gemeinde mit so viel Toten registriert, wie unser Vals. Es herrscht eine traurige Stimmung. Obwohl wir Hoffnung haben für die materiellen Schäden durch die hochherzigen Gaben unserer Mitbürger in der ganzen Schweiz, einigermassen gedeckt zu werden, verlässt uns der traurige Gedanke, dass unsere lieben Toten nicht mehr ersetzt werden können, nicht. Aber es ist halt dennoch ein erfreuliches Zeichen, wenn man eine so grosse Hilfsbereitschaft und Mitgefühl erleben darf. Man hat bei so einem Anlass halt doch das Gefühl der Zusammengehörigkeit als Schweizer und Eidgenossen. Im ganzen seien eine grosse Zahl von Beileidsbezeugungen nach Vals gekommen. Wenn das an der Sache an und für sich nichts mehr ändern kann, so empfindet man es doch als Trost. Die Schulen mussten wir bis auf weiteres schliessen, weil wir das Schulhaus zur Unterbringung der Hilfsmannschaften zur Verfügung stellen mussten. Die zwei Klassen von
Philipp Peng selig haben wir auf Lehrer Tönz und Adolf Schmid verteilt.

Tante Paulina und Franziska Peng-Stoffel wurden sofort nach Öffnung der Strasse ins Spital Ilanz transportiert, und sie sollen sich den Umständen entsprechend ziemlich wohl befinden. Stelle Dir einmal vor, was für seelische Leiden diese armen Frauen und Mütter nebst den körperlichen Schmerzen durchmachen müssen, man kann solche mit Worten gar nicht schildern. Der Herrgott, der das Kreuz aufgeladen hat, gibt zugleich auch die Kraft, um dasselbe zu tragen. Nächste Woche erwarten wir Militär, damit die Aufräumgsarbeiten beschleunigt werden können. Ich habe noch nachzutragen, dass auch das ehemalige Hotel Piz Aul einem Trümmerhaufen gleichsieht.

Ich habe Dir jetzt einen langen Brief geschrieben, aber das ist dennoch nur ein kurzer Abriss von den erschütternden Ereignissen, die wir in diesen Schreckenstagen erlebt haben.
Wir müssen uns halt dem Willen Gottes fügen und jede Prüfung in Geduld und Ergebung ertragen. Bete auch etwa hie und da ein andächtiges Vaterunser für die armen Verschütteten. Es würde mich freuen, wenn Du diesen Brief auch Deinem Bruder Markus zum Lesen geben würdest, denn es bereitet mir doch schier zu viel Mühe, Ihm das Gleiche auch noch zu schreiben. Lasse auch Tante und Onkel den Brief lesen, denn Sie haben sicher auch Interesse und Mitgefühl an den traurigen Begebenheiten. Wenn es Euch möglich wäre bei Tante Paulina im Spital Ilanz einen Besuch abzustatten, wäre es für Sie auf jeden Fall ein grosser Trost in Ihrem herben Leid. Schreibe uns auch etwas öfter bleibe immer ein braver Bursche. Sei also herzlich gegrüsst von uns allen von Zameia bis zum Peilertobel, namentlich aber von Deinem

Vater

N.S. Markus sollte notwendig der Tante Pauline ein Beileidsbrieflein zukommen lassen, denn Sie hat Trost nötig.

Peter Anton Rieder 1892-1966, Verfasser des Briefs (Vater)

Der Brief wurde eins zu eins vom Original übertragen.

Herzlichen Dank an die Nachkommen von Alfred Rieder, dass wir
diesen Brief veröffentlichen dürfen.