Ruth Rieder, Schmetterlingsprojekt

Das Produkt der Arbeit ist der Mensch.

Als ich das Heft in der Hand hielt, war ich sofort hellwach. Und begeistert vom einfachen und überzeugenden Projekt, das da dokumentiert wurde: Fotos zeigen Frauen, Kinder, Männer, die vor einem quadratischen schwarzen Tuch von vielleicht 1½ Meter Seitenlänge posieren. Auf dem schwarzen Tuch ist bildfüllend, mit ausgebreiteten Flügeln, ein grosser blauer Schmetterling – abgebildet – ein Himmelblauer Bläuling? Ein Eros- oder Hauhechel-Bläuling? Die Menschen vor diesem Tuch sehen aus, als wären ihnen Schmetterlingsflügel gewachsen, als wären sie selber Schmetterling. Sie sehen aus, als fühlten sie die Leichtigkeit der Anlage und die Möglichkeit abzuheben.

Wir kennen die Fotostudios des 19. Jahrhunderts, in denen die Fotografen ihre Kunden mangels reeller Alternativen vor gemalten Landschaften, Bergwelten oder prachtvollen Interieurs ablichteten.  Die Kunden gingen ins Fotostudio. Im Schmetterlingsprojekt fuhr das Studio zu den Menschen. Nach Paris in den Jardin des Plantes und zu den Studentinnen, Studenten, Besucherinnen und  Besuchern des Museum of Contemporary Art im iranischen Esfahan. Offenbar wurde das Projekt sofort verstanden, aufgenommen und teils weiterentwickelt. Der Einladung zu dem, was gemeinhin als interkulturelle Kommunikation bezeichnet wird, war jedenfalls in Paris, Esfahan und Bern mannigfach Folge geleistet worden. Interkulturelle Kommunikation? Damit ist gemeint, dass zwei Fremde miteinander reden, dabei merken, dass sie sich nicht immer auf Anhieb verstehen und sich stärker erklären müssen. Das gelingt nur dann nicht, wenn eine Seite meint, dass sie ‘ewige Werte’ besitze, über die nie verhandelt werden könne.

Hinter dem Schmetterlingsprojekt stehen fünf Künstlerinnen, die sich Pol 5 nennen (Monika Gasser, Pia Gisler, MonAlice Haener, Ruth Rieder, Adriana Stadler; www.pol5.com). Später entdeckte ich, dass die 1997 gegründete Gruppe bereits eine lange Reihe von Kunstprojekten an verschiedenen Orten der Schweiz, in Bali, Mali, Mexiko, in  den USA, der Türkei und in Australien durchgeführt hatte.

Ruth Rieder, Valserin und da aufgewachsen, hat die Installationen der Gruppe Pol 5 von Beginn an mitgeprägt. Seit 1988 ist Ruth an zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen aufgetreten. Sie arbeitet und lebt vorwiegend in Luzern.

Wir, Ruth und ich, schlendern durch Luzern (Mai 2016). Das Projekt der «Salle Modulable» sorgt hier für Diskussionen. Es geht um Standort, Kosten, Nutzen, Alternativen. Das Projekt – eine kulturelle Grossoffensive des bürgerlichen Luzern. Dieses sieht in der Salle eine ideale Ergänzung zum berühmten ausladenden Kulturzentrum KKL. Und die Stadt würde sich damit in die Champions League auf der europäischen Landkarte kultureller Wallfahrtsorte katapultieren. Zudem: Culture sells! (Mitte September 2016 hat der Luzerner Kantonsrat den Planungskredit abgelehnt und die Salle Modulable ist kein Thema mehr.)

Ich stehe im grosszügigen Atelier von Ruth und staune. Eine namenlose Serie von Bildern mit so genannten ‘Wurzelblütlern’ ist aufgereiht. Abwechslungsreich, luftig, mit rot gesetzten Akzenten.  Auf Gestellen stehen kleinformatige Bilder, Skulpturen, Entwürfe. In Schubladen liegen Schätze früherer Arbeiten.

Wie wird man Künstlerin? – Im Valser Bergdorf der 50er Jahre müssen die Kinder früh anpacken, mithelfen, sich nützlich machen, praktisch sein. Möglichkeiten, ihrer künstlerischen Neigung nachzugehen, öffnen sich Ruth mit ihrem Umzug nach Luzern: Schule für Gestaltung, Hochschule für Gestaltung, Ausbildung Ästhetische Erziehung und Unterricht in einem Gymnasium. Kunstschaffende leben in der Schweiz selten von der Kunst allein.

Jetzt geht es der Pensionierung entgegen. Ein frei zu gestaltender Raum ohne fixe Verpflichtungen liegt vor ihr. Ruth denkt an ihr Fotoarchiv, an Fotomontagen mit Spiegelungen und Collagen. Sie habe sich bisher immer selber motivieren können, meint sie.

Zürich, 161018 – Jean-Pierre Wolf