Gespräch mit M. Truaisch & G. Guidicelli, Acquarossa, 25. Oktober 2014

Blenio-maenner1 Kontext

Das Bleniotal (= Bezirk Blenio) umfasst heute drei Gemeinden: Blenio die oberste, Acquarossa die mittlere und Serravalle die unterste in der Talschaft. Die drei Gemeinden sind das Ergebnis der Fusionswellen von 2004, 2006 und 2012. Die Gemeinde Blenio ist in der Gemeindefusion von 2006 entstanden, welche die fünf Gemeinden des oberen Bleniotals – Aquila, Campo Blenio, Ghirone, Olivone, Torre – zusammen geführt hat.

http://www.comuneblenio.ch/

Auffallend auf der Homepage des Valle di Blenio ist das „Café Blenio“, eine Diskussionsplattform zu Themen von öffentlichem Interesse, z.B., zum Park Adula1 oder „Campo Blenio e Nara, qual futuro?“2 – Gegenwärtig sind 11 Diskussionsforen offen, das jüngste, „Salviamo l’Ospedale di Acquarossa“ startete am 9. September 2014.

http://www.vallediblenio.ch/vdbg_bleniocafe.php

Die Gemeinde Blenio zählt rund 1700 Einwohnerinnen und Einwohner und umfasst eine Gesamtfläche von über 220 Quadratkilometern, wovon nur rund 3% wirtschaftlich genutzt sind.

“…ogni cittadina e ogni cittadino dovranno dare il meglio di se stessi per creare una coesione e un senso di appartenenza autentico nel nuovo Comune. Nel fare questo non serve più una visione campanilista ma una visione regionalista.”

(Saluto del sindaco, Marino Truaisch) http://www.comuneblenio.ch/index.php?option=com_content&view=article&id=83&Itemid=138

Im Rahmen der Gespräche mit den Valser Nachbarn ist das forumvals Team, verstärkt durch Cesarina Berni, ins Valle di Blenio gefahren und hat mit dem Gemeindepräsidenten der Gemeinde Blenio, Marino Truaisch, und mit Gianni Guidicelli, Musiker der Musikgruppe ‚Vox Blenii‘ und Politiker (Tessiner Grossratspräsident 2011/12) das nachfolgend aufgezeichnete Gespräch geführt. Das Gespräch fand im Ristorante Val Sole in Acquarossa statt.

Unsere Fragen bezogen sich auf Aspekte der neuen Gemeinde, den Umgang mit der Tradition und der Kultur im Allgemeinen sowie dem Verhältnis zur Nachbargemeinde Vals.

Die im Interview angesprochene Lampertschalp war während Jahrhunderten (ab 1451) gemeinsam – d.h., von Gemeinden des oberen Bleniotals sowie von Valser Älplern – genutzt. Der Soredapass und die Bocchetta de Fornee waren wichtige Verbindungen, die im 15. und 16 Jahrhundert allerdings auch zu teils heftig ausgetragenen Konflikten über Wegrechte zwischen den Gemeinden im Bleniotal führten.3

Die Geschichte lehrt uns auch, dass die Alpen keine undurchlässige Mauer sind, dass seit jeher Menschen, Handelsgüter und Ideen über die Berge kamen, dass die Gebirgspässe die Bewohner beider Seiten bei gemeinsamen Belangen sogar vereinten,“ (Guido Calgari, Idea di una storia del Ticino, Locarno 1966)4

 

2 Gespräch

Herr Truaisch Sie sind Gemeindepräsident der Gemeinde Blenio. Wie geht es der Gemeinde aus wirtschaftlicher Sicht?

Marino Truaisch (im Folgenden MT): Wir beklagen uns nicht. Wir sind flächenmässig die grösste Gemeinde im Tessin und der Tourismus spielt eine bedeutende Rolle in der Region. Es gibt in unserer Gemeinde ein rund 500 Kilometer langes Wanderwegnetz mit über einem halben Dutzend thematischer Wanderwege. In Campra ist viel in das nordische Zentrum investiert worden. Es besitzt heute nationalen und internationalen Bekanntheitsgrad mit über 30 Kilometer Langlaufloipen in schneesicherem Gebiet am Lukmanier-Pass. Es ist viel Freiwilligenarbeit für den Bau des Zentrums geleistet worden.

Im Sommer ist die Tourismussaison sehr kurz. Während nur zweier Monate besuchendie Gäste Blenio. Anschliessend sind die Hotels sehr schlecht ausgelastet.

Dann ist natürlich auch die Land- und Alpwirtschaft, welche eine zentrale Rolle spielt. In den tieferen Teilen des Tals ist der Rebbau wichtig, in der Gemeinde Blenio ist es die Milch- und Käseproduktion. Zurzeit gibt es noch 45 landwirtschaftliche Betriebe mit 30 bis 40 Einheiten Grossvieh. Wir verzeichnen in unserem Gebiet 19 Alpen. Es werden 25 Millionen Liter Milch pro Jahr produziert und verarbeitet. Stellen Sie sich vor, dass noch bis anfangs des 20 Jahrhunderts Berge bis zum Gipfel hinauf gemäht worden sind!

Wir müssen zudem die „Fondazione alpina per le scienze della vita“ in Olivone erwähnen. Sie umfasst das „Istituto Alpino di Chimica e di Tossicologia“ (IACT) mit seinen spezialisierten Laboratorien, welche schweizweit Untersuchungen im pharmakologischen und chemisch-toxikologischen Bereich durchführt, sowie die „Scuola Alpina“, ein Schule für Schüler und Jugendliche. Die Stiftung bietet in der Region 12 Arbeitsplätze im hochqualifizierten Bereich.

 

Wo sehen Sie das Entwicklungspotential der Gemeinde?

MT: Wir setzten Hoffnungen auf den Park Adula als touristische Attraktion. Wir wissen, dass Vals dazu noch keine eindeutige Haltung eingenommen hat. Aber stellen Sie sich vor, der grösste Park der Schweiz vor der Haustüre. Das zieht unweigerlich Besucher an und hilft die kurze Sommersaison zu verlängern.

Dann gibt es hier in Acquarossa die Therme.

Gianni Guidicelli (im Folgenden GT): Die Therme hat private Eigentümer und ist seit 42 Jahren geschlossen. Acquarossa ist interessiert, das Land und die Wasserrechte zu erwerben und den Betrieb wieder aufzunehmen. Sie hat dafür 1,6 Millionen Frankenbereitgestellt. Die Verhandlungen sind ins Stocken geraten.

 

Wie sieht die demographische Entwicklung der Gemeinde aus?

MT: Sie ist recht stabil. Es gibt Junge, Studenten, die weggehen und auch nicht zurückkommen. Aber es gibt auch Zuzüger in Acquarossa und in Serravalle aus den Ballungszentren von Lugano, Bellinzona und Locarno. Verglichen mit diesen ist die Lebensqualität im Bleniotal viel höher. Im Besonderen sind die Grundstückpreise tiefer und auch die Verkehrslage ist besser: weniger verstopfte Strassen und eine Autobahn, die von Acquarossa aus in 10 Minuten erreicht wird. Die Inbetriebnahme des Gotthardbasistunnels wird die Lage nochmals verändern. Man rechnet mit einem demographischen Wachstum im unteren Tal. Letztlich hängt vieles von den Arbeitsplätzen ab.

GG: In diesem Zusammenhang muss neben der Therme auch der gegenwärtig laufende Kampf zur Erhaltung des Spitals in Acquarossa (Ospedale Bleniese di Acquarossa) erwähnt werden. Es braucht Basisdienstleistungen für die Entwicklung einer Region. Wird das Spital geschlossen, verliert das Tal neben dem Gesundheitsdienst auch Arbeitsplätze. Deshalb ist die Bevölkerung gegen die Schliessung mobilisiert und es wurden innert kurzer Zeit über 6000 Unterschriften gesammelt und der Tessiner Regierung überreicht.

Interessantes gäbe es auch über die ehemalige Schokoladenfabrik CIMA-NORMA in Dangio zu berichten!

 

Was tut man für die Frauen?

GG: Im Tal ist der Breitbandanschluss an das Internet ein Faktor und das erlaubt es manchen Frauen mit Familie vom eigenen Domizil aus zu arbeiten. Zudem sind die Zentren Bellinzona, Locarno, Lugano gut erreichbar.

Herr Guidicelli, Sie gehören der Musikgruppe Vox Blenii an. Welche kulturellen Schwerpunkte sind in der Gemeinde Blenio zu finden?

GG: Es gibt zahlreiche Vereine. Besonders hervorheben kann man die „Milice“, Vereine, in denen erfreulicherweise viele junge Leute mitmachen. Sie gehen auf die Zeit zurück, als Napoleon in unseren Tälern Soldaten rekrutierte, die auch bei der Beresina noch dabei waren. Jährlich gibt es einen Umzug mit historischen Uniformen und Musik.

Das Cinema Teatro Blenio ist ein Kulturzentrum für das ganze Tal. Es bietet 170 Plätze an und zeigt jeweils am Mittwoch ein filmisches Spezialprogramm. Die Einrichtung gibt es seit den 1950er Jahren und sie hat in dieser Zeit verschiedene Entwicklungen durchgemacht. Es ist 2011 mit einer digitalen Projektionstechnik ausgestattet worden. Der Verein Cinema Teatro umfasst über 200 Mitglieder. Das Tal verfügt über mehrere Museen und Bibliotheken. Jene von Professor Jauch in Olivone bewahrt bibliophile Kostbarkeiten auf, besonders das Vermächtnis von Vincenzo Dalberti.5

In Malvaglia befinden sich die Stiftung und das Archiv des Bildhauers Titta Ratti.6

Vox Blenii hat lange Zeit die „Tre Giorni di Musica Popolare“ in Acquarossa organisiert.

MT: Olivone verfügt über das Centro Polisport, eine Halle, die bis zu 600 Sitzplätze umfasst und für grössere Anlässe geeignet ist.

 

Herr Guidicelli, welchen Stellenwert hat die Musik und insbesondere Ihre Musikgruppe im Tal?

GG: Nicht nur im Tal, sondern in der Südschweiz allgemein ist unsere Gruppe von besonderer Bedeutung! Vox Blenii feiert dieses Jahr ihr 30-jähriges Bestehen und hat bisher sieben CDs aufgenommen, die letzte, „E la mi manda“, dieses Jahr7. Es sind in dieser Zeit zahlreiche Volkslieder bei älteren Leuten aufgespürt und aufgenommen worden, wobei es darum ging, den schlichten und ursprünglichen Charakter beizubehalten und der verbreiteten „falschen Folklore“ (romantisierender Tessinerkitsch für Touristen) entgegen zu treten. Elektronische Verfremdungen und Verstärkung werden vermieden. Vox Blenii hat sich dabei nicht auf das Bleniotal beschränkt sondern im ganzen Tessin und in den italienischsprachigen Tälern des Kantons Graubünden geforscht und gewirkt.

 

In vergangenen Jahrhunderten standen Blenio und Vals vor allem über die Alpwirtschaft in der Lampertschalp in Kontakt. Wie beurteilen Sie heute die Verbindungen zu Vals ?

GG: Die Lampertschalp (Alpe Soreda) gehörte seit mehreren Jahrhunderten zu einem grossen Teil den Gemeinden im Bleniotal, bis sie 1955 von der Kraftwerke Zerfreila AG gekauft worden ist. Der Soreda Pass war eine wichtige Verbindung zwischen dem oberen Valsertal, der Lampertschalp, und dem Valle di Blenio.

MT: Die Kooperation mit Disentis, im Wintertourismus, ist lebendiger als jene mit Vals, die eher zufälligen Charakter aufweist. Es gibt ein gemeinsames Ski Abo für die Skigebiete Disentis und Val Blenio. Mit Vrin sind die Beziehungen ebenfalls enger, was auch auf die sprachliche Verständigung zurück zu führen ist.

 

Herr Guidicelli, Herr Truaisch, wir danken Ihnen für das Gespräch und die Zeit, die Sie sich dafür reserviert haben

Ursula Berni, Cesarina Berni, Jean-Pierre Wolf

Adressen:

cancelleria@comuneblenio.ch

gianni.guidicelli@ocst.com

1 Besteht seit 2006, über 500 Beiträge, über 132‘000 Klicks

2 Besteht seit 2007, über 160 Beiträge, 44‘000 Klicks

3 Siehe: Rachele Pollini-Widmer, Lampertschalp, Eine Blenienser Alpsiedlung des Spätmittelalters im Valsertal, 2011 – Alpe Soreda, Un insediamento alpino bleniese nel tardo Medioevo nella Valle di Vals (Reihe cultura alpina, Band 4)

4 Zitiert aus Pollini-Widmer, S.5

5 Vincenzo Dalberti (*1763/Milano – 1849/Olivone): Führender Politiker und Staatsmann im jungen Kanton Tessin und Autor politischer Schriften.

6 Titta Ratti (1896/Milano – 1992/Malviglia), Bildhauer und leidenschaftlicher Alpinist. Aus einer Familie aus Malviglia stammend, die nach Milano emigriert war.

7 Vox Blenii, E la mia manda, CD 2014

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